Das innere Kind und seine Verletzungen

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Neulich war mein inneres Kind am Wirken. Es fühlte sich hilflos, traurig und einem kleineren und doch wirbelnden Sturm ausgesetzt.

Der Anfang des Wirbels

Meine Tochter hatte ihre Unterlagen in der Schule liegen lassen, die sie unbedingt zum Lernen für eine Prüfung gebraucht hätte. Das ist ja nicht weiter schlimm, das kann passieren, oder? Natürlich war es unangenehm für sie, als sie realisierte, dass sie dadurch mit dem Lernen in Zeitnot geraten würde.

Wir suchten gemeinsam nach verschiedenen Lösungen, wie das Lernen trotzdem möglich wäre: Wir marschierten zum Schulhaus, doch da war niemand. Meine Tochter telefonierte einer Schulkameradin, doch diese hatte bereits reichlich gelernt und hatte die Unterlagen nicht mehr nach Hause genommen. Alle unsere Versuche die Unterlagen zu organisieren waren erfolglos.

Und auf einmal machte ich ihr Problem zu meinem eigenen. Ich spürte, wie der Ärger, ja die Wut, in mir hochstieg. Was mit mir zu dem Zeitpunkt passierte, konnte ich nicht einordnen, denn schliesslich hatte ja meine Tochter etwas vergessen, nicht ich! Ich schien meinen Gefühlen ausgeliefert zu sein.

Es lief bei mir ein Film in einer solchen Klarheit, doch mit einem riesigen Gefühlswirrwarr ab, als ob ich die Hauptdarstellerin der aktuellen Situation wäre.

Ein Vorwurf lauthals gegen meine Tochter gerichtet, war einer meiner Versuche ihr Problem bei ihr zu lassen. Diese Reaktion löste bei mir jedoch sogleich ein schlechtes Gewissen aus und dies konnte definitiv nicht die Lösung sein. Ich wusste, dass sie sonst sehr gut organisiert ist und dieses Mal verschiedene Umstände dazu geführt hatten, dass sie ihre Sachen vergessen hat. Oder anders gesagt, ich merkte, dass meine Reaktion unangemessen war. Darauf konterte meine Tochter dann auch postwendend: «Ja Mami, ihr habt mich schliesslich so geboren!».

Der “Stutzeffektals Ausstiegsmöglichkeit

Diese Aussage ließ mich innerlich schmunzeln und machte mich stutzig. Und genau dieses Innehalten, eröffnete mir die Chance, einen Schritt aus dem Sturm zu treten und klarer denken zu können.

Ich erklärte ihr, dass dies zu sagen, etwas zu einfach wäre. In der Tat bekommt ein Kind einen Teil seiner Persönlichkeit von seinen Eltern vererbt, einen weiteren Teil bringt das Kind jedoch selbst mit und einen dritten bildet sich durch eigene Erfahrungen.

Das eigene verletzte innere Kind

Und siehe da, erst jetzt fing es bei mir an zu dämmern. Ha! Meine Tochter hat durch ihr Missgeschick die Erinnerung an meine Dauervergesslichkeit als Kind mit all den dazugehörigen Gefühlen wieder zum Vorschein gebracht! Ich war nämlich diejenige, die als Kind ständig alles vergessen hatte. Mal lief ich in den Hausschuhen von der Schule nach Hause, dann liess ich zu Hause ein Heft liegen oder meine Jacke hing noch irgendwo und ich hatte vergessen, wo das gewesen sein könnte. Zum Glück hat sich meine Vergesslichkeit heute mehrheitlich ausgewachsen. Meine Gefühle dazu scheinen jedoch noch nicht ganz soweit zu sein (oder; …noch immer in mir zu schlummern!

In dieser Situation reagierte ich also vielmehr wie ein Kind anstatt wie ein Erwachsener. Es war mein inneres Kind, welches mich dirigierte.

Was ich mit dieser Geschichte sagen möchte

Oftmals reagieren wir aus einer eigenen Verletzung heraus auf eine Art und Weise, die uns nicht entspricht. Und oft sind es Prägungen von früher, die uns schon längst nicht mehr als solche bewusst sind. Schliesslich entstehen 80 % unserer Glaubenssätze bereits in unserer Kindheit. Und obwohl oder gerade weil sie uns nicht mehr bewusst sind, können sie uns unkontrolliert steuern.

So wird es möglich, dass ein Gefühlssturm über einen hereinbricht und es einem nicht klar ist, warum das passiert!

Folgende Möglichkeiten können helfen, auszusteigen und Klarheit zu gewinnen:

  • Atme tief durch, versuche eine Vogelperspektive einzunehmen und schaue dir die Situation von aussen an. So, als ob du nicht zu diesem Schauspiel dazugehören würdest.

  • Versuche dich auszuklinken und für einen Moment den Raum zu verlassen.

  • Verbalisiere deine Gefühle. Möglichst mit «Ich…», «Mir...» beginnenden Sätzen, die sogenannten Ich-Botschaften. Sie lassen dich deine eigenen Gefühle besser erkennen und verletzen das Gegenüber nicht.

  • Komme zur Ruhe und vielleicht wird dir dann klar, was der Auslöser war.

  • Besprich die Situation mit jemandem und schaue dir deine alten Verletzungen und Glaubenssätze an.

Nimm, wenn immer möglich, Konflikte als Chance wahr und versuche daran zu wachsen. Denn wenn es etwas in einem selbst auslöst, hat das Thema immer auch etwas mit einem selbst zu tun.

Klären, was wirklich war!

Und jetzt zur Ruhe gekommen durfte ich mich wieder als Erwachsene zeigen, über dem Ganzen stehen und meiner Tochter erklären, warum meine Reaktion ungewohnt, anders und eigentlich nicht angemessen war.

Sie schaute mich an und es schien mir, als ob sie es schon längst verstanden hatte. Dann stieg sie mir auf den Schoss, schmiegte sich an mich und es war wohl für beide das Schönste, jede für sich und auf ihre Art und Weise zu erkennen, was das einzig Wichtige ist – die Liebe.

Eine Auseinandersetzung bietet immer die Möglichkeit zu erkennen und daraus zu lernen und sie kann erst noch beziehungsfördernd wirken.

Bei meiner Arbeit geht es sehr oft um Beziehungen. Eltern/Kind-Beziehungen, Paarbeziehung, Geschwisterthematiken, ja Beziehungen aller Art. Wenn sich eine ungute Situation ständig in ähnlicher Weise wiederholt und du vor einem Rätsel stehst, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr siehst, dann habe den Mut und schaue es dir mit Hilfe von jemandem Aussenstehenden an.